Kapitel 2: Follonica: Zwischen sonnigem Paradies und dem ersten Abgrund (Erweitert)

Der Sommer, in dem ich das fünfzehnte Lebensjahr vollendete, kündigte sich mit dem Versprechen einer willkommenen, fast schon ersehnten Unterbrechung des alltäglichen Trotts an. Es war die Aussicht auf eine Flucht aus der gewohnten Umgebung, hinein in die sonnenverwöhnte, fast mythisch anmutende Landschaft der Toskana. Follonica, ein Küstenort, der sich an das Tyrrhenische Meer schmiegte, war das erklärte Ziel unserer Familienreise. Genauer gesagt, das Resort “Golfo del Sole”, eine Anlage, die wie eine kleine, perfekt organisierte Schweizer Enklave unter der warmen italienischen Sonne wirkte – ein Ort, der Vertrautheit und Exotik zugleich versprach. Die Vorfreude prickelte in mir wie Champagnerbläschen, eine ungestüme Mischung aus jugendlicher Abenteuerlust, der unstillbaren Sehnsucht nach endlosen Tagen am Meer, dem salzigen Geschmack auf den Lippen und dem harzigen Duft von Pinien, der in der Luft lag.

Die ersten Tage in Follonica waren erfüllt von einer ansteckenden Leichtigkeit, von der wohltuenden Wärme der italienischen Sonne auf der Haut und dem erfrischenden, kühlen Nass des Mittelmeers, das jede Sorge fortzuspülen schien. Ich warf mich mit Begeisterung in das Strandleben, knüpfte schnell und unkompliziert Kontakte zu anderen Jugendlichen, die meisten von ihnen ebenfalls aus der Schweiz, was die Verständigung erleichterte und ein Gefühl von temporärer, aber intensiver Gemeinschaft erzeugte. Unsere gemeinsamen Stunden waren geprägt von unbeschwertem Lachen, das über den Strand hallte, von endlosen, manchmal albernen, manchmal erstaunlich tiefgründigen Gesprächen über Gott und die Welt, und von dem berauschenden Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die den Moment lebte, als gäbe es kein Morgen.

An einem dieser scheinbar perfekten, in goldenes Licht getauchten Tage, nahmen meine Eltern eine Einladung zum Abendessen beim Chef meines Vaters an, eine dieser gesellschaftlichen Verpflichtungen, die zum Erwachsenenleben dazugehören. Für mich jedoch bedeutete dies einen ganzen Abend ohne elterliche Aufsicht, eine seltene und kostbare Gelegenheit, die neu gewonnene Freiheit bis zur Neige auszukosten und die Grenzen des Erlaubten ein wenig zu dehnen. Ich traf mich mit einigen der Jugendlichen, die ich in den Tagen zuvor kennengelernt hatte, eine bunte Truppe aus verschiedenen Teilen der Schweiz, vereint im Wunsch nach Spaß und Abenteuer. Die Atmosphäre war von Beginn an ausgelassen, fast schon überdreht, die Gespräche wurden mit jeder Minute lauter, das Lachen ansteckender, die Stimmung euphorischer. Ich wirkte, wie mir oft gesagt wurde und was ich insgeheim auch ein wenig genoss, älter als meine tatsächlichen fünfzehn Jahre, eine Tatsache, die mir in diesem speziellen Moment sehr zupasskam. Ohne nennenswerte Probleme oder kritische Nachfragen konnte ich in einem kleinen Laden Alkohol kaufen, eine Tatsache, die ich damals eher als ein Zeichen von Erwachsensein und als Privileg denn als eine potenzielle Gefahr wahrnahm. Die Konsequenzen waren in diesem Moment unvorstellbar weit entfernt.

Am Strand, unter dem samtenen, sternenklaren italienischen Himmel, der sich wie eine unendlich weite Kuppel über uns spannte, teilten wir die gekauften Getränke. Ich erinnere mich noch lebhaft an den süßlichen, fast klebrigen Geschmack von Wodka Melone, eine Erinnerung, die heute, Jahre später, einen bitteren, metallischen Beigeschmack auf meiner Zunge hinterlässt. Die Stimmung war euphorisch, fast schon fiebrig, und in meiner jugendlichen Unbekümmertheit, gepaart mit dem tiefen Wunsch, dazuzugehören, nicht als der Jüngere oder Unerfahrene dazustehen, trank ich weit mehr, als auch nur annähernd vernünftig gewesen wäre. Zwei ganze Flaschen, so erfuhr ich später aus den erschütterten Erzählungen meiner Eltern und den medizinischen Berichten, fanden ihren unheilvollen Weg in meinen Magen.

Was genau an diesem Abend nach den ersten Runden geschah, welche Gespräche noch geführt wurden, welche Lieder gesungen, welche Dummheiten gemacht wurden, liegt für mich bis heute im tiefsten Dunkeln, verschluckt von einem undurchdringlichen, schweren Nebel des Vergessens. Es ist ein schwarzes Loch in meiner Erinnerung, ein Vakuum, das sich mit keiner Anstrengung füllen lässt. Die Vermutung, dass mir jemand unbemerkt etwas in mein Getränk gemischt haben könnte, K.-o.-Tropfen oder eine ähnliche Substanz, wurde später von verschiedenen Seiten geäußert, ein schrecklicher, entsetzlicher Verdacht, der die ohnehin schon schlimmen Ereignisse in ein noch perfideres, bösartigeres Licht taucht. Ob es tatsächlich so war, oder ob es allein die schiere, brutale Menge des Alkohols war, die meinen jungen Körper und meinen Geist überwältigte und außer Gefecht setzte, bleibt eine quälende, niemals ganz aufzulösende Ungewissheit, ein Stachel, der immer wieder schmerzt.

Die bewusste Erinnerung setzt erst wieder ein, als meine Eltern, die das Dessertangebot ihres Gastgebers dankend ausgeschlagen hatten, um nach ihren Kindern zu sehen – ein Akt elterlicher Fürsorge, der mir das Leben rettete – mich fanden. Das Bild, das sich ihnen bot, muss ein Alptraum gewesen sein, die schlimmste Befürchtung aller Eltern. Ich lag reglos, wie ein lebloser Körper, am Boden, etwas abseits, hinter einer Gruppe von Jugendlichen, die auf Stühlen saßen, lachten, feierten und mich, der ich da in meinem Elend lag, entweder ignorierten oder, noch schlimmer, sich über meinen Zustand amüsierten. Ihre Gleichgültigkeit, ihr offensichtliches Amüsement angesichts meiner offensichtlichen, lebensbedrohlichen Notlage, ist ein weiterer Stachel, der tief in meiner Seele sitzt und auch nach all den Jahren noch brennt.

Meine Eltern erkannten sofort, mit der Intuition liebender Eltern, den furchtbaren Ernst der Lage. Ich reagierte nicht mehr auf Zurufe, nicht auf Berührungen. Panik, nackte, lähmende Panik brach aus. Der Notruf wurde gewählt, und die schrillen, ohrenbetäubenden Sirenen des Rettungwagens zerrissen die trügerische, friedliche Ruhe der italienischen Sommernacht, ein Alarmzeichen, das das Ende meiner Unbeschwertheit markierte. Die Fahrt ins nächstgrößere Krankenhaus, dessen Name mir entfallen ist, war ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit, ein Kampf um mein junges Leben. Zweimal, so erzählte man mir später mit zitternder Stimme, musste ich im Rettungswagen wiederbelebt werden, ein traumatisches, entsetzliches Erlebnis, das mein Vater, der mich begleitete, hilflos und voller Todesangst mitansehen musste. Die Bilder dieser Fahrt, die er mir später bruchstückhaft schilderte, verfolgen ihn bis heute.

Zwei lange, quälende Tage später, als ich im sterilen, fremden Krankenhauszimmer wieder zu mir kam, wurde mir langsam und schmerzhaft das volle Ausmaß des Vorfalls bewusst: 4,4 Promille. Eine Dosis, die für einen ausgewachsenen, gesunden Erwachsenen lebensbedrohlich ist, für einen Jugendlichen von fünfzehn Jahren erst recht. Die Ärzte sprachen von einem Wunder, dass ich überlebt hatte, von Glück im Unglück. Doch das Gefühl, das mich überwältigte, war keines des Glücks, sondern tiefe Scham, Verwirrung und eine unbestimmte, nagende Angst.

Die unmittelbare Folge dieses katastrophalen Ereignisses war nicht nur die massive körperliche Erschütterung, die mein Körper erlitten hatte, sondern auch ein tiefer, verheerender Einschnitt in mein Gedächtnis. Wie ein unbarmherziger Radiergummi hatte der Alkohol, oder das, was auch immer in meinem Getränk gewesen sein mochte, große Teile meiner bisherigen Erinnerungen ausgelöscht, einfach weggewischt. Fragmente blieben, wie verstreute Scherben eines zerbrochenen Spiegels, unscharf, ohne klaren Zusammenhang, oft verzerrt. Aber viele kostbare Momente, viele wichtige Details meines jungen Lebens, die Summe dessen, was mich bis dahin ausgemacht hatte, waren unwiederbringlich verloren, für immer ausgelöscht aus dem Buch meines Lebens. Der Sommer in Follonica, der als ein unbeschwertes, sonniges Paradies begonnen hatte, endete als ein tiefer, dunkler Abgrund, der erste von vielen, die noch folgen sollten.